Sollten Mieter eine Wohnung unbesichtigt mieten? Die Anmietung einer Wohnung ohne Besichtigung bringt Vorteile, jedoch auch erhebliche Risiken. Ein neues Gerichtsurteil verhindert, dass sich Mieter unmittelbar auf ihr Widerrufsrecht berufen und den Vertrag anfechten können, wenn die Immobilie ihren Vorstellungen nicht entspricht.
Von der Anmietung einer Wohnung ohne Besichtigung versprechen sich Mieter häufig Vorteile: Vielleicht hat der Interessent eine besonders weite Anfahrt, oder er möchte besonders flexibel erscheinen und sich durch seine unbedingte Zusage im Kampf um die Traumwohnung – oder um die günstige Wohnung – durchsetzen.
Ist es für Mieter empfehlenswert, eine Wohnung anzumieten, ohne diese vor Unterschrift des Mietvertrags besichtigt zu haben?
Seit der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 ist die Anmietung ohne Besichtigung üblicher geworden. Notgedrungen haben Makler ihr digitales Angebot erweitert. Die erste persönliche Besichtigung der Mietwohnung entpuppte sich für einige Mieter dann jedoch als Desaster. Sie hatten sich die Immobilie anders vorgestellt oder sie erkannten Mängel, die aus Mietersicht im Vorfeld des Vertragsschlusses verschwiegen wurden. Bislang konnte sich der Mieter auf sein Recht als Verbraucher beziehen oder den geschlossenen Vertrag mit Verweis auf den Vertragsschluss im Fernabsatzvertrag widerrufen. Im Zweifel war das Mietverhältnis anfechtbar oder dem Mieter stand ein Rücktrittsrecht vom Vertrag zu.
Neue Rechtsprechung: Unkenntnis hebt den Vertrag nicht auf, wenn der Mieter die Wohnung ohne Besichtigung mietet
Das Landgericht Lübeck in einem neuen Urteil eine andere Richtung eingeschlagen: Rechtsanwalt Constantin Jung aus Frankfurt am Main berichtet Immobilienmaklern im Rahmen des dritten digitalen Rechtsforums des Immobilienverband Deutschland IIVD vom neuen Urteil des Landgerichts Lübeck mit dem Aktenzeichen 14 S 23/21:
Ein Mieter, der vor Mietvertragsschluss die Wohnung nicht besichtigt, ist bezüglich später gerügter Mängel grob fahrlässige Unkenntnis zu unterstellen, weshalb ihm weder ein Recht zur Anfechtung des Mietvertrags noch ein Minderungsrecht zusteht.“, schreibt Jung in seiner Präsentation, die den Maklern nach der Tagung zugänglich gemacht wurde, „Es besteht keine allgemeine Verpflichtung des Vermieters, ungünstige – bei der Besichtigung erkennbare – Eigenschaften des Mietobjekts ungefragt offenzulegen
Mieter gehen somit ein hohes Risiko ein, wenn sie eine Wohnung ohne Besichtigung anmieten. Häufig wird die Kündigung der Mietwohnung vertraglich für 12 bis 24 Monate oder sogar länger ausgeschlossen. Mit Unterschrift geht der Mieter somit eine Verpflichtung im Wert von etlichen tausend Euro ein.
Vorteile des Urteils für den Gesamtmarkt könnten die Nachteile des Mieters überwiegen
Das Urteil könnte die Usancen im Mietmarkt neu ordnen.Augenscheinlich ist das Urteil nachteiig für den Mieter. Auf den zweiten Blick bringt die Rechtsprechung jedoch gravierende Vorteile, glaubt Immobilienmakler Richard Nitzsche, der das Urteil begrüßt.
Setzt sich die Rechtsprechung durch, bedeutet dies mehr Sicherheit für Vermieter, wenn sie ohne Besichtigung einen Mietvertrag abschließen. Steht dem Mieter kein pauschales Rücktrittsrecht vom Vertrag zu, kann der Eigentümer leichter auf ein entsprechendes Angebot des Mieters eingehen.
Das Urteil wirke wie zusätzliches Schmiermittel für Transaktionen, da es die entscheidende Barriere der persönlichen Besichtigung aufhebe. Stehe dem Mieter grundsätzlich kein Rücktrittsrecht vom Vertrag zu, wenn nicht besichtigt wurde, könne der Eigentümer auf entsprechende Angebote von Mietern eingehen. Der Mieter hingegen könne sich durch Flexibilität im Aussparen der Besichtigung tatsächlich von der Interessenten-Konkurrenz absetzen. Nitzsche leitet das Unternehmen VermieterPRO, das sich auf Vermietung und Verkauf von Eigentumswohnungen spezialisiert hat. Besonders interessant werde dies für Eigentümer, die einen besonders langen Anfahrtsweg zur Immobilie haben und /oder die Kosten für die Beauftragung eines professionellen Wohnungsmaklers sparen möchten.
Immobilienmakler: Digitale Angebote sind bestenfalls eine Ergänzung zur persönlichen Besichtigung
Nitzsche hält die persönliche Besichtigung mit dem Interessenten trotzdem für unerlässlich. Denn nicht nur der Mieter gehe Risiken ein, wenn er die Wohnung nicht besichtige. Auch der Vermieter erhöhe sein Risiko: „Der Eigentümer geht bei der Vergabe der Immobilie ebenfalls ein hohes Risiko ein. Im persönlichen Austausch werden ungleich mehr Informationen transportiert, die die Entscheidungsfindung erleichtern. Die Besichtigung ist immer auch ein Kennenlernen des Mieters.“
Ob das Kennenlernen jedoch langfristig in der Besichtigung erfolgen muss, oder durch ein digitales Substitut ersetzt werden kann, ob die digitale Besichtigung zum Maß der Dinge wird, muss die Zeit zeigen. „Wir bieten inzwischen praktisch an allen Objekten digitale Begehungen an“, argumentiert Nitzsche, „bei den Besichtigungen zeigen wir auch unvorteilhafte Eigenschaften der Immobilie – gerade um negative AHA-Effekte auszuschließen; jedoch begreifen wir die digitale Begehung als Ergänzung zum persönlichen Angebot. Das digitale Angebot hilft uns, Besichtigungskosten zu reduzieren: Interessenten, die das Objekt nicht mieten würden, steigen wegen der digitalen Besichtigung zu einem früheren Zeitpunkt aus. Mit Hilfe der digitalen Besichtigung können die persönliche Besichtigung und der Mietvertragsschluss dann sogar oft im selben Termin erfolgen.“